Im Dialog: Bibelarbeit auf dem 33. Evangelischen Kirchentag

3. Jun 2011 | Dialog

Landesbischof Dr. Johannes Friedrich und Imam Benjamin Idriz

Foto: merkur.de

Freitag, 03.06.11, 09:30 -10:30 Uhr, ICC, Saal 4-5, Ostra-Ufer 2 (340 / O16)

Im Dialog: Landesbischof Dr. Johannes Friedrich (München), Imam Benjamin Idriz (Penzberg)
Thema: Deuteronomium 30, 6- 20

Landesbischof Friedrich

Liebe Schwestern und Brüder!

Redet die Bibel vom Menschen, greift sie gerne auf den Begriff „Herz“ zurück. Weit über 800 Mal ist vom menschlichen Herzen die Rede – und damit weit öfter als von seiner „Seele“ (näfäsch) und seinem „Geist“ (ruach). Es scheint fast so, als wäre das „Herz“ ein Synonym für den Menschen an sich. Was ist also das „Herz“ des Menschen? Wo berührt es das Herz Gottes?

Die heutige Bibelarbeit über Deuteronomium 30 versucht, diesen Fragen auf die Spur zu kommen. Dabei soll auch das islamische Verständnis betrachtet werden – Benjamin Idriz, Imam der Moscheegemeinde Penzberg, den ich sehr schätze, wird es immer wieder ins Spiel bringen.

Wir hören also zunächst aus dem Buch Deuteronomium nach der Übersetzung Martin Luthers – Sie finden den Text auch auf S. 147 Ihres Liederheftes:

6 Und der HERR, dein Gott, wird dein Herz beschneiden und das Herz deiner Nachkommen, damit du den HERRN, deinen Gott, liebst von ganzem Herzen und von ganzer Seele, auf dass du am Leben bleibst.

7 Aber alle diese Flüche wird der HERR, dein Gott, auf deine Feinde legen und auf die, die dich hassen und verfolgen.

8 Du aber wirst umkehren und der Stimme des HERRN gehorchen, dass du tust alle seine Gebote, die ich dir heute gebiete.

9 Und der HERR, dein Gott, wird dir Glück geben zu allen Werken deiner Hände, zu der Frucht deines Leibes, zu den Jungtieren deines Viehs, zum Ertrag deines Ackers, dass dir’s zugute komme. Denn der HERR wird sich wieder über dich freuen, dir zugut, wie er sich über deine Väter gefreut hat,

10 weil du der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchst und hältst seine Gebote und Rechte, die geschrieben stehen im Buch dieses Gesetzes, wenn du dich bekehrst zu dem HERRN, deinem Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele.

11 Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern.

12 Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun?

13 Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun?

14 Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

15 Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse. 16 Wenn du gehorchst den Geboten des HERRN, deines Gottes, die ich dir heute gebiete, dass du den HERRN, deinen Gott, liebst und wandelst in seinen Wegen und seine Gebote, Gesetze und Rechte hältst, so wirst du leben und dich mehren, und der HERR, dein Gott, wird dich segnen in dem Lande, in das du ziehst, es einzunehmen.

17 Wendet sich aber dein Herz und du gehorchst nicht, sondern lässt dich verführen, dass du andere Götter anbetest und ihnen dienst,

18 so verkünde ich euch heute, dass ihr umkommen und nicht lange in dem Lande bleiben werdet, in das du über den Jordan ziehst, es einzunehmen.

19 Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen,

20 indem ihr den HERRN, euren Gott, liebt und seiner Stimme gehorcht und ihm anhangt. Denn das bedeutet für dich, dass du lebst und alt wirst und wohnen bleibst in dem Lande, das der HERR deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat, ihnen zu geben.

Einführung in den Text Dtn 30

Um sich dieser Rede Moses, oder besser, dieser Gottesrede durch den Mund des Mose zu nähern, bedarf es zunächst eines kurzen Blicks in die historische Entstehungssituation und den Kontext.

Entstanden ist dieser Text wohl nach dem Exil. Diese Zeit der Zerstörung des Tempels und der Wegführung der oberen Zehntausend nach Babylonien gilt als Zeit der Krise. Damit verbunden – in jeder Krise liegt ja auch eine Chance – ist aber ein neues, intensives Nachdenken über den Staat, d.h. das Königtum und das Verhältnis des Gottes Israels zu den Göttern der Umwelt.

Ganz allgemein wird man sagen können, dass der Blick zurück ausgesprochen kritisch ausfällt und zu folgendem Schluss kommt: Das Königtum war von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil nicht die Besten zu Königen wurden, sondern diejenigen, die mit dem Machtgewinn persönliche Interessen verfolgten. Besonders deutlich wird dies in der Parabel von den Bäumen, die einen König wollen und schließlich den Dornbusch, der lediglich Stacheln hat, für dieses Amt gewinnen (Ri 9, 8-15). Oder auch in den großen Vorbehalten, die der Prophet Samuel äußert, als Gott ihn auffordert, dem Willen des Volkes nach einem König nachzukommen „wie die Heiden ihn haben“ (1 Sam 8, 10ff.).

Dazu kommt ein zweites: Die Könige schienen besonders anfällig für fremde Götter und deren Kulte gewesen zu sein. Diese Schwäche war so auffällig, dass sie nachgerade als „Sünde der Könige“ bezeichnet wird.

Beides wird als derart betrachtet, dass der Untergang Israels unausweichlich ist. Weil Israel den Bund gebrochen hat, sieht Gott sich geradezu gezwungen, Gericht zu üben. Ein Gericht allerdings, das von der Vernichtung absieht, und Israel lediglich von Gottes Antlitz, d.h. dem Tempel entfernt.

Die Entstehung des Deuteronomiums fällt also in diese Zeit. Die große denkerische Leistung besteht darin, dass sie eine große Schau – und das bedeutet auch: eine Deutung – der Geschichte des Volkes Israel versucht. So wird zunächst, vor allem durch Mose und Samuel, der „Zorn Gottes“ angedroht, der am Ende des deuteronomistischen Geschichtswerkes dann auch tatsächlich eintritt. Schon am Anfang der Geschichte Gottes mit einem Volk wird auf das Ende im Exil hingewiesen, wenn es in Dtn 29 folgendermaßen heißt:

23 alle Völker werden sagen: Warum hat der HERR an diesem Lande so gehandelt? Was ist das für ein großer, grimmiger Zorn? 24 Dann wird man sagen: Darum, weil sie den Bund des HERRN, des Gottes ihrer Väter, verlassen haben, den er mit ihnen schloss, als er sie aus Ägyptenland führte, 25 und sind hingegangen und haben andern Göttern gedient und sie angebetet, Götter, die sie nicht kennen und die er ihnen nicht zugewiesen hat, 26 darum ist des HERRN Zorn entbrannt gegen dies Land, dass er über sie hat kommen lassen alle Flüche, die in diesem Buch geschrieben stehen. 27 Und der HERR hat sie aus ihrem Lande gestoßen in großem Zorn, Grimm und ohne Erbarmen und hat sie in ein anderes Land geworfen, so wie es heute ist.

Obwohl alle Aussagen von Gottes Zorn in Erfüllung gegangen sind, hat sein Zorn nicht das letzte Wort. Die Identität Israels bleibt, wie auch die Möglichkeit, nach der Katastrophe und im Exil umkehren zu können.

So heißt es schon in Dtn 4: 29 Wenn du aber dort den HERRN, deinen Gott, suchen wirst, so wirst du ihn finden, wenn du ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen wirst. 30 Wenn du geängstet sein wirst und dich das alles treffen wird in künftigen Zeiten, so wirst du dich bekehren zu dem HERRN, deinem Gott, und seiner Stimme gehorchen. 31 Denn der HERR, dein Gott, ist ein barmherziger Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben, wird auch den Bund nicht vergessen, den er deinen Vätern geschworen hat.

Gerade dieser Gedanke der Umkehr, das Leben dem Tod vorzuziehen, durchzieht auch das 30. Kapitel des Deuteronomiums. Wer dies nun genauer betrachtet, stellt schon in der Sprache, aber auch in der Gedanken- und Vorstellungswelt eine große Nähe zur Prophetie fest, insbesondere zu den Propheten Jeremia und Ezechiel. Mit immer neuen Worten und Bildern beschwören diese beiden Propheten das Volk Israel nachgerade, zu Gott umzukehren. Dieselbe Leidenschaft ist auch im Deuteronomiumbuch zu finden: das Heilshandeln Gottes in Geschichte und Gegenwart, sein Erbarmen soll das Volk Israel in Zukunft dazu bewegen, ihm gehorsam zu sein und von sich von falschen Wegen abzuwenden.

Letzte Worte beim Herannahen des Todes haben naturgemäß ein großes Gewicht. Noch viel mehr, wenn sie bei klarem Bewusstsein und großem Nachdruck gesprochen sind. Einen letzten Willen, ein Testament zu ignorieren ist nur etwas für Hartgesottene. Das Persönliche tritt bei Moses Vermächtnis ganz in den Hintergrund, auch wenn es ausgesprochen persönlich formuliert ist. Ursprünglich hat das Deuteronomium wohl damit geendet – letzte Worten sind immerhin letzte Worte, danach kommt nur noch der Tod. Spätere Herausgeber haben, um eine Überleitung zu den geschichtlichen Büchern zu schaffen, noch einiges eingefügt.

Mose: Rolle und Bedeutung im Alten/Neuen Testament

Soweit eine kurze Einführung in die Ursprünge dieses Textes. Mose ist die zentrale Figur darin. Welche Rolle spielt er in der Bibel und welche im Koran?

Mose ist eine der ganz großen Gestalten der ganzen Bibel. Doch wie das manchmal so ist: Außerhalb der Bibel findet sich im Grunde kein historischer Nachweis, auch sind die geschichtlichen Anhaltspunkte ausgesprochen schwach. So gilt zunächst einmal: Die überlieferte Tradition ist zwar – aus historischer Sicht – durchaus vorstellbar, an Nachweisen aber mangelt es. Dies betrifft vor allem die – für die Theologie so entscheidende – Offenbarung am Sinai.

Geschichtlich lässt sich lediglich folgendes sagen: Wir haben es mit einem Mann zu tun, der einen ägyptischen Namen trägt. Das macht eine ägyptische Herkunft plausibel, wenngleich – wegen der politischen Vormachtstellung – derartige Namen auch im syrisch-palästinischen Raum verbreitet waren. Eines ist auszuschließen: Er war kein vornehmer Ägypter, der sich mit Hebräern solidarisierte. Entweder hat er seinen Namen vom Vater erhalten, der in ägyptischen Diensten stand oder er erhielt ihn, weil er selbst Ägyptern diente (beides ist auch anderweitig belegt). Zumindest ist auch den biblischen Autoren dieser Tatbestand erklärungsbedürftig genug, um auf die Umstände der wunderbaren Rettung des Knaben aus dem Nil zu verweisen. Historisch relevant ist weiterhin die familiäre Bindung an Midian, jenes Gebiet im Südosten der Sinaihalbinsel gelegen; das Midianbild war ausgesprochen negativ belegt. Niemand hätte ohne Not darauf verwiesen. Auch hier zeigt sich biblisches Problembewusstsein: Sein Schwiegervater Jitro (auch Reguel, Hobab) bekehrt sich zu dem Gott Israels; Zippora, seine Frau, beschneidet ihren Sohn, um Unheil von Mose abzuwehren. Und schließlich: Mose hat wohl offensichtlich eine Führungsrolle übernommen, als eine Gruppe Menschen, die einen bestimmten Gott verehrten, Ägypten verlies.

Soweit der historische Befund, der hier ganz offensichtlich an seine Grenzen kommt. Auch in der Bibel spielt die Person Mose keine große Rolle. Wichtig ist, was er bedeutet, nicht, wer er als Person ist.

Rein formal ist er die verbindende menschliche Gestalt von Exodus bis Deuteronomium – und noch viel mehr: Er ist der Erste, der Gottes Namen empfängt und Mittler der Tora. Mose gilt als Hörer und Täter des Wortes aus Gottes Mund, als Bote Gottes gegenüber dem Pharao. Er ist derjenige, der für das Volk Fürbitte bei Gott einlegt bis hin zum Widerspruch und zur rätselhaften Sünde, die ihm den Zugang zum Gelobten Land verweigert. Schließlich ist er, ganz ähnlich wie Elia und Elisa Wundertäter und verkündigt, den Propheten gleich, den Willen Gottes. Das alles ist Mose – eines aber nicht: Niemals kam er auf die Idee, König seiner Leute sein zu wollen und ist damit – später in der Königszeit war dies ja in der Tat ein Thema – auch nie zum Konkurrenten Gottes geworden.

Auch wenn das Gelobte Land Mose verschlossen blieb, er bleibt ganz besonders, auch über den Tod hinaus: er dürfte wohl der einzige Mensch sein, den Gott selbst bestattet hat. Und niemand hat sein Grab erfahren bis auf den heutigen Tag. (Dtn 34,6)

Imam Idriz

Mose: Rolle und Bedeutung im Koran

Der Koran – nach dem Glauben der Muslime die letzte Offenbarung Gottes an die Menschen – enthält keine neuen Inhalte, die alles Frühere ersetzen oder gar für ungültig erklären würden. Vielmehr vollendet und bestätigt der Koran die Schriften des Alten und des Neuen Testaments, und, in unserer Sicht, korrigiert er sie auch in manchen Punkten. Insgesamt sind es aber die Übereinstimmungen, das Judentum-, Christentum- und Islam- Verbindende und Gemeinsame, das bei weitem überwiegt – von der Schöpfung der Welt mit Adam und Eva angefangen über die großen Gestalten der Heilsgeschichte, Noah, Abraham und seine Söhne Ismael und Isaak, Jakob als Stammvater der Israeliten und Josef, der von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft wurde, die Könige David und Salomo, bis hin zu Zacharias und Johannes dem Täufer, Maria und ihrem Sohn Jesus mit seiner Botschaft der Liebe und des Friedens.

Die Gestalt des Mose ist besonders gut geeignet, die weit reichenden Gemeinsamkeiten zu illustrieren. Eigentlich ist alles, was Ihnen über Mose aus den Büchern der Tora bekannt ist, auch den Muslimen aus dem Koran vertraut. Wie kein anderer Prophet wird Mose mehrfach im Koran erwähnt, genau 131 Mal, während Muhammed 4 Mal namentliche Erwähnung findet. Angefangen mit seiner Rettung als Säugling im Binsenkörbchen auf dem Nil. Die Frau des Pharao, ihren Namen kennt die islamische Tradition als Âsiya, rettet das Kind, indem sie sich gegen den ausdrücklichen Willen ihres Mannes durchsetzt.

Mose ist und bleibt für Muslime ein hoch geachteter Prophet und eine wichtige Gestalt für die Beziehung Gottes zu den Menschen; dabei waren und sind sich Muslime immer der besonders zentralen Bedeutung bewusst, die Mose im Selbstverständnis des jüdischen Volkes spielt. Eine der Ehefrauen des Propheten Muhammad, sie hieß Safiya, war jüdischen Ursprungs. Als sie deswegen von anderen angefeindet wurde, riet er ihr, ihre Herkunft als besondere Auszeichnung zu verteidigen mit den Worten: „Wie sollt ihr besser sein als ich? Ist doch mein Mann Muhammad, mein Vater Aaron und mein Onkel Mose.“

Mose – Mûsa in der arabischen Sprache des Korans – wurde zum Propheten berufen und war, gemeinsam mit seinem Bruder Aaron (Harûn) dazu bestimmt, sein Volk, die Söhne und Töchter Israels, vor der Unterdrückung durch den Pharao zu retten. Besonders die Sure 28 erzählt vieles davon; sie hat die Bezeichnung „Al Quasas -die Geschichte“, gemeint ist: die Geschichte von Mose und seinem Volk.

Den Auftrag Gottes an Mose fasst Sure 14 Vers 5 zusammen: „Führe dein Volk aus den Tiefen der Finsternis ins Licht, und erinnere sie an die Tage Gottes!“.

Aus einem Feuer in der Wüste, der Koran nennt den Ort des Geschehens „das geheiligte Tal“, wird er von Gott angesprochen: „Ich habe dich auserwählt, höre auf das, was dir offenbart wird. Wahrlich Ich – Ich allein – bin Gott, es gibt keine Gottheit außer Mir“ (20:12-14). Dem Vorbild des Mose folgend, das Ihnen von dieser Stelle her vertraut ist, dass er nämlich vor dem brennenden Dornbusch die Schuhe ablegte, ist in der islamischen Tradition, wie Sie wissen, die Sitte bis heute weit verbreitet, vor dem Gebet die Schuhe auszuziehen.

Nach den Konfrontationen mit Pharao, und nach dem Wunder des Durchzugs durch das geteilte Meer, wandert das Volk durch die Wüste und Mose erhält dort Gottes Offenbarung. Der Koran nennt sie die tawra, die Tora. Als deren Quintessenz gewissermaßen kennen Juden und Christen die „Zehn Gebote“. Muslime können sich dem ohne Einschränkung anschließen, wenn man einmal vom Sabbat-Gebot absieht, das ja auch die Christen nach ihrem Verständnis adaptiert haben. Ansonsten sind alle Gebote, dem Wortlaut oder zumindest dem Inhalt nach, auch im Koran enthalten, nicht in einem Stück, sondern wiederholt und verteilt über viele Suren.

Ähnlich wie es in der Tora der Fall ist, enthält auch der Koran teilweise Handlungsanweisungen und Richtlinien, die für die Konstituierung der Gemeinschaft der Gläubigen, für deren Zusammenleben und Beziehungen zur Umwelt grundlegend sind. Oft reflektieren diese Vorschriften jene der Tora. Und so wie Gott sich zur Zeit des Mose für seine Offenbarung der Sprache und Kultur der Israeliten jener Epoche bediente, so tat er es später mit der Sprache und Kultur der Araber zur Zeit des Propheten Muhammad. Das Motiv aber, das sich als roter Faden durch alle Offenbarungen hindurch zieht, ist die alles menschliche Maß übersteigende Barmherzigkeit Gottes! Nach der Verfehlung der Israeliten mit dem Goldenen Kalb, wirft, wie in der Bibel, Mose die Gesetzestafeln hin, besinnt sich aber und betet: „Herr, vergib mir und meinem Bruder und nimm uns in Deine Gnade auf: denn Du bist der Barmherzigste der Barmherzigen.“ (7:151). In der Niederschrift der Tafeln, so heißt es weiter, ist „Rechtleitung und Barmherzigkeit für alle, die Ehrfurcht vor ihrem Erhalter haben.“ (7:154).

Landesbischof Friedrich

Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch (aus biblischer Sicht)

Wenn von Gott und Mensch geredet wird, ist von einem Verhältnis die Rede. Einem Verhältnis, das im Alten Testament seit Josia als Bund bezeichnet wird. Nun stellen wir uns unter „Bund“ in aller Regel einen Zusammenschluss von Staaten oder Menschen vor, die von einem ähnlichen Interesse geleitet sind. Der biblische Gedanke des Bundes zwischen Gott und den Menschen geht aber weit darüber hinaus.

Entstanden ist auch er auf einem politischen Hintergrund – beschreibt er doch zunächst ein vertraglich geregeltes Abhängigkeitsverhältnis zwischen assyrischen Königen mit den von ihrer Gnade abhängigen Vasallen. Die entsprechenden Urkunden sind stets auffällig ähnlich gestaltet: Zunächst wird die Großzügigkeit und das rettende Handeln des Königs gepriesen, um dann auf die daraus resultierenden Verpflichtungen und Tributzahlungen des unterlegenen, abhängigen Vasallen festzulegen. Vertragserfüllung und –verletzung werden durch Segens- und Fluchtkataloge beschrieben.

Der syrisch-ephraimitische Krieg, in dem Juda Assyrien um Hilfe und bat, hatte den Preis, dass Juda dem König und Reichsgott Assur Tribut zahlen musste. Auch war es genötigt, einen ihm gewidmeten Altar im Tempel errichten.

Diesem politischen Sachverhalt stellt das Deuteronomium nun den Bund mit Gott entgegen; dieser bindet Israel exklusiv an Gott und ist schon auf diesem Wege eine deutliche Kritik an allen, die ihr Heil in der Abhängigkeit von fremden Königen und damit auch letztlich deren Göttern suchen. Denn – Gott und König sind eins – das galt für den gesamten Alten Orient. Mit einer Ausnahme, versteht sich. Die Rettung des Volkes Israel besteht im Gehorsam seinem Gott gegenüber. Er errettet sein Volk, so wie er sie aus Ägypten errettet hat: er führt sie aus der rechtlosen Sklaverei und Unterdrückung. Treue auf Seiten Gottes, Gehorsam auf Seiten des Menschen und nicht ein Vertrag bilden diesen Bund.

Dieser Bund klingt exklusiv und ist es auch. Er ist es in vielfacher Hinsicht – gegenüber den Göttern der anderen Völker natürlich. Aber auch in Israel selbst. Zunächst wurden in den einzelnen Städten Stadtgottheiten verehrt, in Jerusalem und den Städten Samarias, auch hatten die einzelnen Großfamilien Gottheiten, die ihnen Schutz und Zuflucht gewähren sollten. Bis zur Kultreform unter Josia spielten diese Regionalgottheiten eine große Rolle. In Gott, dem Herrn, verschmelzen alle diese Gottheiten. Dieser Prozess ist ganz offensichtlich nicht ohne Reibung verlaufen, immer wieder musste das Volk Israel an den einen Gott erinnert werden. Das zeigt sich in Deuteronomium 30, wo auffällig oft die Formel „dein Gott“ verwendet wird. 8-mal heißt es „dein Gott“, gerade so als bedürfe es des beständigen Einschärfens und des nachdrücklichen Erinnerns: Gott ist den Bund zu seinem Volk eingegangen und dies bedeutet für das Volk Israel, ausschließlich ihm verpflichtet zu sein. Darüber hinaus dringt der Gott des Volkes damit auch in den Kreis der familiären und persönlichen Gottesbeziehung und verdrängt andere Kräfte. Er ist nicht mehr nur der Gott der Königshöfe, sondern „dein Gott“, der „deinem Herzen nahe“ ist.

Damit ist der unendlich ferne, transzendente Gott so nahe gekommen wie nur irgend möglich. Dies geschieht durch das Wort, durch seine Tora. In ihr hat Gott sich geoffenbart – dieses Wort ist endgültig und ausreichend. Gleichzeitig ist die Tora dem Menschen als Geschöpf ähnlich, sie ist weder abstrakt noch sinnlos fordernd, sondern steht vielmehr und immer im Dienst des Lebens. Sie ist klar und begreifbar, der Mensch muss sich nicht bemühen, um sie aus der Ferne gegenwärtig zu machen. Sie ist nicht „im Himmel“, dem utopischen Ort, auch nicht „jenseits des Meeres“, was angesichts der schwachen Seefahrtskünste Israels fast ebenso unerreichbar wie der Himmel ist. Vielmehr ist „das Wort dir nahe“ – und das bedeutet auch: Es gibt keine Möglichkeit zum Rückzug und keine Ausflüchte, denn das Wort der Tora ist zudringlich, es appelliert an alles, was ihr zu Gebote steht – Atem, Vernunft, Liebe, Herz.

Solange es die Tora gibt, kann Gott im Jenseits bleiben. Denn durch sie hat Gott hat alles Notwendige getan, damit ist der Bund zwischen ihm und dem Israel besiegelt, in der Weise, wie es auch der Prophet Jeremia beschreibt: „das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein“ (Jer 31, 33).

Die Tora ist das eigentliche Bundeszeichen, viel mehr als die kultische Beschneidung. Diese geschieht lediglich äußerlich, worum es wirklich und im Kern geht, ist die Beschneidung des Herzens, die es möglich macht, Gott aufrichtig und „von Herzen“ zu lieben, was auch immer mit „Herz“ hier gemeint ist. An eine Romanze haben wohl weder das Deuteronomium noch der Prophet Jeremia gedacht, der vom neuen Bund als von einer Erneuerung des Herzens spricht: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, 32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR; 33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein. 34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.“ (Jer 31, 31ff.)

Noch deutlicher wird der Prophet Ezechiel, wenn es darum geht, den erneuerten Bund und das menschliche Herz zu beschreiben, das diesem Bund entsprechen kann. Das kann kein Mensch – das kann nur Gott allein. Er bewirkt, dass sein Volk sich ihm zuwenden kann.

Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. 27 Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun. 28 Und ihr sollt wohnen im Lande, das ich euren Vätern gegeben habe, und sollt mein Volk sein und ich will euer Gott sein“ (Ez 36, 26ff.)

Wenngleich das Herz des Menschen, auf das ich noch zu sprechen kommen werde, ein unzuverlässiger Geselle ist, der der beständigen göttlichen Pflege und Lockung bedarf, umso beständiger ist das Herz Gottes. In seinem Herzen ist er dem Menschen zugewandt, nach nichts sehnt er sich mehr, als dass auch der Mensch ihm sein Herz zuwendet. Es ist ihm, so sagt es der Prophet Jeremia, eine unablässige Freude, den Menschen Gutes zu tun. Deswegen leidet er auch unter der Bosheit der Menschen; sie schmerzt ihn bis ins Herz. Gottes Tun und Wollen ist in Gegenwart und Zukunft zuverlässig – die Pläne seines Herzens gelten von Geschlecht zu Geschlecht.

Treu und unwandelbar ist Gott in seiner Liebe. Und so brennend, dass er sich trotz aller Enttäuschung immer wieder dem Menschen zuwendet. Niemand hat dies eindrucksvoller, anrührender, ja dramatischer beschrieben als der Prophet Hosea, bei dem es heißt: „Wie kann ich dich preisgeben, Ephraim, und dich ausliefern, Israel? Wie kann ich dich preisgeben gleich Adma und dich zurichten wie Zebojim? Mein Herz ist andern Sinnes, alle meine Barmherzigkeit ist entbrannt. 9 Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn noch Ephraim wieder verderben. Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch und bin der Heilige unter dir und will nicht kommen, zu verheeren“ (Hos 11, 8ff.) Der Eifer Gottes wird hier als so in seinem Herzen grundstürzend beschrieben, dass er sich gegen seinen eigenen Zornentscheid, und das heißt letztlich gegen seine Prinzipien wendet. Gegen alle Prinzipien, ist doch die Liebe kein Prinzip, sondern die immer wieder freie Entscheidung für den Geliebten, die Geliebte. Was hier für Ephraim und Israel gilt, weitet sich in Jesus Christus für alle Völker. Ohne das Herz Gottes ist die Lage des Menschen nicht zu verstehen.

Imam Idriz

Das Verhältnis Gott und Mensch aus koranischer Sicht

Zu den Stereotypen, die über den Islam kursieren, und manchmal auch ganz gezielt verbreitet werden, gehört der Vorwurf, Gott – „Allah“ ist nur die wunderbar wohlklingende arabische Vokabel für Gott – stünde dem Menschen in unüberbrückbarer Distanz gegenüber. Dem widerspricht ja schon der Glaube an die Offenbarung selbst, denn indem Gott sich den Menschen offenbart, überbrückt Er, nach Seinem Willen, was uns von Ihm trennt. Gleichwohl lehnt der Islam, wie Sie ja sicherlich wissen, eine Menschwerdung Gottes ab. Hier liegt ein zentraler Unterschied zwischen den Religionen, den wir, meine ich, stehen lassen und gegenseitig respektieren dürfen und sollen. Jesus ist laut Koran nicht Sohn Gottes und erst recht nicht eins mit Gott, sondern ein Mensch, der als Prophet einen besonderen Draht zu Gott hatte und Ihm in besonderer Weise nahe stand, ein ganz wichtiges Vorbild für alle Menschen. Der Koran kann Jesus sogar „Wort Gottes“ nennen, weil er die Botschaft Gottes durch sein Leben und Lehren in besonderer Weise verkörpert hat. Aber wir Muslime können nicht von einem „fleischgewordenen Wort Gottes“ sprechen. Für uns ist das Wort Gottes einzig und allein in der Schrift präsent, im Koran. Wenn wir uns in Sein unmittelbares Wort vertiefen, bei der Koranlektüre also, begegnen wir Gott. Manche Theologen und Religionswissenschaftler haben deshalb schon die Koranrezitation aus muslimischer Sicht mit dem christlichen Verständnis der Abendmahlsfeier verglichen, weil die Gläubigen dabei jeweils ganz besonders unmittelbar die Gegenwart Gottes spüren.

Was wir im Koran lesen, stellt uns Gott eben nicht als eine unendlich ferne, unnahbare oder gar unheimliche Größe dar, sondern – davon sprach ich schon – in allererster Linie als Quelle der Barmherzigkeit, oder mit einer noch deutlicheren Vokabel übertragen: der Liebe. Die Liebe, die Barmherzigkeit Gottes ist tatsächlich das mit weitem Abstand am häufigsten gebrauchte Attribut Gottes, und eine der häufigsten Vokabeln überhaupt im Koran – eine Tatsache, die so manche Außenansichten über den Koran leider gerne vollkommen überspringen. Allerdings räume ich freilich auch ein, dass auch manche meiner muslimischen Glaubensbrüder und –schwestern nicht gerade immer diesen Aspekt vorleben, nicht nach außen und auch nach innen nicht.

Natürlich ist Gott unfassbar und erhaben und nichts auf der Welt kann mit Ihm auf eine Stufe gestellt werden. Aber wenn sich dieser Gott mit seiner Barmherzigkeit und Liebe dem Menschen immer wieder zuwendet, wie könnte Er ihm dann ferne sein? Das formuliert der Koran sehr einprägsam und in aller Deutlichkeit: „Wir sind dem Menschen näher als seine Halsschlagader“ (50:16).

Gottes Anliegen ist es also, eine Beziehung zu Seinem Geschöpf, dem Menschen, zu knüpfen. Wie für jede gelingende Beziehung braucht es dafür eine tragfähige Grundlage. Und die liefert uns Gott durch Seine Offenbarung, die Er als Leitfaden den Menschen immer wieder mitgegeben hat. Gott schließt, auch nach koranischer Auffassung, immer wieder Seinen Bund mit den Menschen: mit Adam und Eva, mit Noah, mit Abraham, mit Mose und seinem Volk. Sure 2 Vers 40 heißt es z.B.: „Ihr Kinder Israels, gedenkt der Gnade, die Ich euch geschenkt habe. Erfüllt die Verpflichtung Mir gegenüber, Ich erfülle Meine euch gegenüber“. Für diese „Verpflichtungen“, für die Bestimmungen, die jeweils zu dem Bund gehören, hat die islamische Tradition das Wort „Scharia“ geprägt – ein Begriff, der leider entsetzlich entstellt wird, von einigen Muslimen in manchen Ländern, die mit einem in früheren Jahrhunderten stehengebliebenen Islam-Verständnis die Gegenwart und Zukunft unter heute völlig ungeeigneten Vorstellungen verschütten, aber auch in der öffentlichen Diskussion, die sich überhaupt nicht darum bemüht zuerst einmal zu verstehen, was der Begriff eigentlich bedeutet. Das geht so weit, dass der bloße Gebrauch des Wortes alleine schon genügt, um als absolut nicht integrierbarer Fundamentalist abgestempelt zu werden. Ich selbst erlebe das persönlich sehr heftig. Ich habe deshalb mit mir gerungen, ob es sinnvoll ist, hier überhaupt auf Scharia einzugehen, denn natürlich ist hier nicht die Gelegenheit, das in der notwendigen Ausführlichkeit zu tun. Aber ich bitte Sie, wenn Sie dieses Wort hören, Ihre Assoziationen zu schrecklichen, mittelalterlichen Rechtsvorstellungen bis hin zu Köperstrafen einfach einmal zu ersetzen mit der tröstenden und hoffnungsfrohen Botschaft, dass Gott immer wieder zu Seinem Bund mit den Menschen steht und wir das Gleiche tun sollten. Die Bestimmungen des Bundes durch Mose sind in der Tora sehr detailliert niedergelegt. Dort ist sehr oft von Körper- und Todesstrafe die Rede, und auch von Gegenwehr gegen Feinde. Dennoch sind wir uns sicher einig, dass das, was Gott den Israeliten zu jener Zeit anempfohlen hat, heute in ganz anderer Weise, und keineswegs 1 zu 1 dem Buchstaben nach, in unsere Kultur und Zeit übertragen werden muss. Mit dem Bund, den Gott durch Muhammad geschlossen hat, ist es nicht anders. Niemand kann fordern, den Wortlaut der Tora zu verändern, und beim Koran ist es genauso. Aber auch wenn wir Muslime glauben, dass die Offenbarung des Korans das unmittelbare und ewige Wort Gottes ist, so dürfen und müssen wir verstehen, dass es nicht nur darauf ankommt, was Gott im Koran gesagt hat, sondern vor allem auch darauf, was Er damit gemeint hat. Wie würde Gott heute zu uns sprechen, wie würde Er das alles in der Sprache unserer Zeit und unserer Kultur ausdrücken? Um das zu verstehen, darf ich mich nicht auf die Buchstaben Jahrhunderte alter Gesetzestexte zurückziehen, sondern muss auf meine Halsschlagader hören, auf mein Herz, in mein Innerstes hinein – denn dort finde ich Gott.

Landesbischof Friedrich

Das Verhältnis zwischen Mensch und Gott – Biblische Bestimmungen

Das Herz ist die Mitte des Menschen. Auch wenn wir das medizinische Wissen und Können der Alten Welt nicht unterschätzen sollen – vieles war erstaunlich weit entwickelt, auch komplexe Zusammenhänge durchaus bekannt: Mit dem Blut pumpenden Muskel hat das biblische Herz nur wenig zu tun. Der ausgesprochen häufige Gebrauch dieses Wortes als Synonym für oder im Zusammenhang mit dem Menschen zeigt natürlich, dass das Herz als wesentliches Lebensorgan galt. Krankheit und Erschöpfung werden mit ihm in Verbindung gebracht.

Es beschreibt, und das leuchtet uns Heutigen noch unmittelbar ein, das Innerste eines Menschen, das allein vor Gott nicht verborgen ist: Menschen sehen auf Äußerlichkeiten, auf die Größe und Schönheit eines Menschen – Gott aber sieht das Herz an. Das Herz ist Ort der Empfindung und des Gefühl, wo Freude und Kummer wohnen. Auch das verstehen wir heute noch ohne weiteres. Ein festes Herz hat einer, der mutig ist. Verlangen und Begehren haben ihren Sitz im Herzen. Weitaus am häufigsten, und das mag uns überraschen, wird auf das Herz verwiesen, wenn nach unserem Verständnis eigentlich Intellekt und Vernunft, also Kopf, Hirn und Geist gemeint sind. Deswegen wimmelt es vor allem in der weisheitlichen Literatur, dem Prediger und den Sprüchen nur so von Aussagen über das Herz. Hören, Sehen, Verstehen sind eng mit einander verbunden. Auge und Ohr sind für das Herz wichtig: Die Tora kann gelesen und gehört werden, sie ist allen zugänglich, eben kein Geheim- oder Herrschaftswissen. Wer klug ist, hört auf sein Herz, benutzt seine Sinne, um zur Einsicht zu gelangen.

Demzufolge befinden sich das Vermögen zur Erkenntnis, Einsicht, Bewusstsein, Gedächtnis, Wissen, Nachdenken, Urteilen, Orientierung, Verstand im direkten Umfeld des Herzens.

Um es auf den Punkt zu bringen: Männer mit Herz sind nicht etwa besonders gefühlvoll, sondern kluge Männer. Ein herzloser Mensch ist nicht etwa roh, sondern dumm. Der Mangel an Herz ist gleichbedeutend mit Gedankenlosigkeit. Wenn in der Bibel ein Menschen den anderen anweist: „das soll in deinem Herzen sein“, dann fordert er diesen auf, etwas im Bewusstsein zu behalten.

Vom Verstehen und Denken ist es nur ein kleiner Schritt zum Gewissen, werden im Herzen doch die Kriterien zum Handeln entwickelt. Dabei wird sich das Herz durchaus als Parlament des Menschen vorgestellt, der Ort, an dem Entschlüsse gefällt werden, wo Gedanken und Wille um Entscheidungen ringen. Weil nicht nur die Weisheit einen Platz im Herzen beansprucht und Entscheidungen immer auch zum Bösen sein können, muss das Herz behütet werden. So mahnen beispielsweise die Sprüche: „Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben“ (Spr 4, 23).

Wer sich selbst sucht, muss sich auf die Suche nach dem Herzen machen – obwohl verborgen, lenkt es den Menschen. Die Erneuerung des Herzen ist aber nicht des Menschen Sache, dies liegt allein bei Gott. Er schenkt, das hatte ich vorhin bereits erwähnt, ein neues Herz, entfernt das aus Stein und gibt eines aus Fleisch. Das steinerne Herz ist tot, macht alle Glieder aktionsunfähig. Das von Gott gegebene Herz aus Fleisch ist lebendig, einsichtsvoll, zu neuem Handeln willig. Und deshalb sind „Herz“ und das „Handeln“ so eng verbunden wie in Vers 14: Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

Die Antwort auf Gottes Bund mit dem Menschen ist also, in seinen Wegen zu wandeln. Dem Herz folgt die Tat.

Imam Idriz

Das Verhältnis Mensch und Gott aus koranischer Sicht

In der Erzählung von Mose, wie auch verschiedentlich an anderen Stellen, verwendet der Koran das Wort „Herz“: Nachdem sich Moses Mutter von ihrem Kind getrennt hatte, um es zu retten, da „wuchs in ihrem Herzen eine schmerzende Leere“. Ihr Leben, ihr ganzes Sein, heißt das doch wohl, war sinnlos geworden. Aber Gott, so heißt es weiter, „stärkte ihr Herz, sodass sie zu den Glaubenden gehörte.“ Die Bezogenheit auf Gott ist es, die in scheinbar aussichtsloser Leere wieder Inhalt und Kraft vermittelt.

Das Herz, so hat es der Herr Landesbischof eben beschrieben, kann ein Bild für das Verstehen und Denken des Menschen sein. Ein ganz wichtiges Anliegen Gottes ist es offenbar, den Menschen immer wieder und wieder zum Nachdenken über Seine Offenbarung zu ermuntern, aufzufordern. An beinahe unzähligen Stellen stehen im Koran Formulierungen wie „denkt nach!“, „versteht ihr denn nicht?!“, „schaut hin!“. Noch bevor Gott im Koran zum Menschen „Glaub!“ gesagt hat, sagte Er „Lies!“ – d.h. mache dich kundig, lerne, sieh hin und dann wirst du verstehen.

Bevor Gott in historischer Reihenfolge die heiligen Texte offenbarte, hatte Er bereits den Menschen und seine Vernunft erschaffen. Der Mensch kann durch seine Vernunft erkennen, dass Gott existiert und was gut und böse, was nützlich und schädlich, was sauber und schmutzig ist. Diese Erkenntnis steht jedem zu, der in Besitz eines reinen Gewissens und gesunden Verstandes ist. Es gilt, dem Propheten dorthin zu folgen, wo der Mensch Schwierigkeiten mit dem vernunftmäßigen Begreifen hat: wenn es um den Inhalt des Glaubens oder um die Fragen des Jenseits geht. Ein Verständnis des Glaubens, das sich von der Vernunft und Erkenntnis entfernt, wird dagegen Fanatismus hervorbringen und in Widerspruch mit den natürlichen Werten des Lebens geraten.

Das Wesen der im Koran behandelten Themen bildet der Mensch. Da Gott dem Menschen etwas von Seiner eigenen Seele eingehaucht hat (15:29), ist der Mensch dasjenige Wesen, das Gott am nächsten steht, das am wertvollsten ist. Der vorzüglichste Ort, Gott zu erkennen, ist das Gewissen des Menschen. Also besteht zwischen Gott und Mensch kein vertikales, sondern ein horizontales Verhältnis. Gott – trotz Seiner absoluten Mächtigkeit – darf nicht als ein Wesen angesehen werden, das auf den Menschen von oben, aus höchster Höhe herabsieht, sondern als eines, das neben dem Menschen steht, in ihm und mit ihm zusammen ist. „Wenn meine Diener dich nach Mir fragen – siehe, Ich bin nahe. Ich erhöre den Ruf dessen, der ruft, wann immer er zu Mir ruft“ (2:186).

Die hierarchische Betrachtung Gottes als oben stehendes Wesen führte dazu, dass der dadurch entstandene Abstand zwischen Gott und dem Menschen von verschiedenen Klassen aufgefüllt wurde. Ein derart entrückter Gott löst bei den Gläubigen Furcht und Zurückhaltung aus, bei den Atheisten hingegen die Verleugnung Gottes. Wir brauchen ein neues Verständnis, das Gott in die Welt und die Welt in Gott aufnimmt. Anstelle einer Lehre, die sich auf Gott konzentriert, brauchen wir in der Theologie eher eine Anthropologie, die den Menschen zum Gegenstand macht. Da der Ansprechpartner des Korans der Mensch ist, erzählt dieses Buch mit Beispielen aus einer bestimmten Zeit von einem bestimmten Ort über den gemeinsamen Aufbau der Welt durch Gott und den Menschen. Gott offenbart dem Menschen also keine fertigen Antworten, sondern er zeigt ihm Beispiele aus einer bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeit und verlangt von ihm, dass er daraus Schlüsse zieht und dadurch sein Bewusstsein schärft. So will Gott den eingeschlafenen Geist der Menschheit erwecken und die Seite in ihm beleben, die nach Güte und Gerechtigkeit sucht.

Für den Menschen ist Gott kein zu fürchtender Herrscher, sondern ein Freund, bei dem der Mensch Zuflucht vor seinen Ängsten sucht; für Gott ist der Mensch ein Geschöpf, mit dem er die Welt aufbaut. Als Dank für die von Gott geschenkten Gaben der Vernunft und der Talente errichtet der Mensch mit deren Hilfe die Welt. Ein Religionsverständnis und ein Glaubensdiskurs können nicht über Epochen hinweg ihre Gültigkeit behalten, wenn sie von einer vernunftlosen und seelenlosen Theologie geformt sind, die mit dem Lauf der Dinge nicht Schritt hält, die den Menschen nicht ins Zentrum setzt, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch auf die Furcht reduziert, Gott nicht als aktiv Handelnden denkt, sondern seinen Text dogmatisiert und die Lösung jeglicher Fragen in dieses dogmatische Gottesverständnis einsperrt. Alle Disziplinen der Theologie müssen auf Liebe fokussiert sein. Die Liebe bestimmt auch das Verhältnis zwischen Gott und Mensch und nicht die Furcht oder der Hass. Das heißt, Liebe, Toleranz, Respekt und Gerechtigkeit müssen zum tragenden Element werden, in dem der Gelehrte die Verantwortung übernimmt, die Religion zu interpretieren und zu kommentieren.

Landesbischof Friedrich

Wo es um Gott und Mensch geht, steht alles auf dem Spiel (nach christlich/jüdischem Verständnis)

Bei dem Vermächtnis des Mose geht es um Gott und Mensch, um Mensch und Gott. Es geht ums Ganze. Deswegen ist Deuteronomium 30 von warnender Eindringlichkeit – alles steht auf dem Spiel. So, dass Himmel und Erde als Zeugen bemüht werden.

Wenn das Leben auf dem Spiel steht, gibt es eigentlich nur ein „Dafür“. Wer wollte so töricht, so herzlos im biblischen Sinne sein, sich „Dagegen“ zu entscheiden.

Zumal das Leben, das sich in Segen, Gedeihen und der Freude ausdrückt so nahe liegt und leicht erreichbar zu sein scheint. Wer wollte sich den Segen entgehen lassen, der sich auf das ganze Leben erstreckt und auch die Umgebung mit einbezieht: Nachkommen, Tiere, Früchte, Land stehen unter dem Vorzeichen des Wachsens und Gedeihens. Dem Leben in Fülle ist dabei keine Grenze gesetzt, kein Wasser verwässert hier den Wein, Raum um Raum eröffnet sich.

Gott kehrt zu seinem Volk und schenkt ihm alles aus Freude über die Umkehr der Menschen. Gott will, dass Leben gelingt, uns zufrieden macht. Niemand erhält lediglich „das Seine“, sondern ein überfließendes Maß, weil Gott parteiisch ist und das Gute des auf ihn bezogenen Menschen will. Gott will das Leben in Gänze, er schenkt die Fülle, ihm selbst und dem Menschen zur Freude.

Darum geht es, wenn Gott vor die Wahl zwischen Leben und Tod stellt. Bei so einem Angebot gibt es eigentlich keine Wahl ist doch die dunkle Alternative des Verderbens und des Todes keine Alternative.

Wer also den Tod meiden und das Leben gewinnen will, ergreife „das Wort, das ganz nahe ist, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust“.

Imam Idriz

Wo es um Gott und Mensch geht, steht alles auf dem Spiel (aus koranischer Sicht)

Wir haben gehört, dass der biblische Text den wir besprochen haben, so etwas wie das Vermächtnis des Propheten Mose an sein Volk darstellt, gesprochen kurz vor seinem Tod. Mich erinnert das an einen wichtigen Text, den jede Muslima und jeder Muslim kennt (oder kennen sollte): die so genannte „Abschiedspredigt“, die der Prophet Muhammad kurz vor seinem Tod in Mekka gehalten hat. Darin erinnert er die Menschen daran, dass Gott unter ihnen keinerlei Rangordnung kennt, nicht nach Mann oder Frau, nicht nach Weiß oder Schwarz, nicht nach Araber oder Israelit oder welcher Ethnie auch immer.

Der Prophet warnte die Menschen in seiner Abschiedspredigt noch einmal eindringlich davor, „in religiösen Dingen die Grenzen zu überschreiten“, also zu übertreiben, in Radikalismus und Extremismus zu verfallen, das normale Maß, den gesunden Menschenverstand, also das Herz des Menschen, außer Acht zu lassen.

Und der Prophet wählte aus dem gesamten Koran einen einzigen Vers aus, um ihn in seiner Abschiedspredigt noch einmal zu zitieren: „Ihr Menschen! Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und haben euch zu Völkern und Stämmen werden lassen, damit ihr euch kennenlernt.“ (49:13). Das Lernen übereinander und voneinander, der Austausch, der Dialog, dass wir nicht nebeneinander her leben, sondern aufeinander zugehen und uns verständigen – das ist ein Gebot Gottes, nicht weniger wie es ein Gebot der Vernunft und des Herzens sein sollte.

Deshalb freut es mich sehr, dass so ein Austausch wie hier im Rahmen dieses beeindruckenden Kirchentags möglich war. Ich danke Ihnen, lieber Herr Friedrich, den Veranstaltern, Frau Godel, und Ihnen allen für Ihre Teilnahme sehr herzlich.

Landesbischof Friedrich

Auch ich danke Ihnen, lieber Herr Idriz, ganz herzlich für diese gemeinsame Bibelarbeit. Es war für uns sehr wichtig, von einem islamischen Theologen wie Ihnen Ausführungen zu diesem biblischen Text zu erhalten, die einiges an Vorurteilen, was unter uns vorhanden sein mag, ausräumt.

Der Dialog zwischen uns lohnt sich. Danke!

Imam Idriz beim evangelischen Kirchentag
Imam Idriz beim evangelischen Kirchentag

Bild: merkur.de

„Scharia entsetzlich entstellt“: Penzberger Imam beim evangelischen Kirchentag
Quelle: merkur.de

Bei einer Bibelarbeit mit dem bayerischen evangelischen Landesbischof Johannes Friedrich am Freitag auf dem evangelischen Kirchentag in Dresden machte der Penzberger Imam Idriz seine Forderung am Begriff der „Scharia“ fest. Der Begriff werde von einigen Muslimen „leider entsetzlich entstellt“, weil sie Gegenwart und Zukunft mit ihrem jahrhundertealten Islam-Verständnis verschütteten.

Idriz kritisierte auch die öffentliche Debatte über den Islam, „die sich überhaupt nicht darum bemüht, zu verstehen, was der Begriff eigentlich bedeutet“. Das gehe so weit, dass der alleinige Gebrauch des Wortes genüge, um als „nicht integrierbarer Fundamentalist“ abgestempelt zu werden. „Ich erlebe das persönlich sehr heftig“, sagte der Imam. Idriz’ Penzberger Gemeinde wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Er bat darum, eigene Assoziationen beim Wort „Scharia“ zu mittelalterlichen Rechtsvorstellungen bis hin zu Körperstrafen mit der tröstenden und hoffnungsfrohen Botschaft Gottes zu ersetzen.

Niemand könne fordern, den Wortlaut des Korans zu verändern, sagte er beim evangelischen Kirchentag. Aber auch wenn die Muslime glaubten, dass die Offenbarung des Korans das unmittelbare Wort Gottes sei, so müssten sie verstehen, dass es nicht nur darauf ankomme, was Gott im Koran gesagt, sondern darauf, was er damit gemeint habe. „Wie würde Gott heute zu uns sprechen, wie würde er das alles in der Sprache unserer Zeit und unserer Kultur ausdrücken?“, fragte Idriz. Um das zu verstehen, dürfe man sich nicht auf jahrhundertealte Texte zurückziehen, sondern man müsse auf sein Herz hören, „in mein Innerstes hinein – denn dort finde ich Gott“.

Idriz betonte in Dresden die friedliche Ausrichtung des Islam. Muhammed habe die Menschen in seiner Abschiedspredigt nochmals eindringlich davor gewarnt, „in religiösen Dingen die Grenzen zu überschreiten“, also zu übertreiben, in Radikalismus und Extremismus zu verfallen, das normale Maß, den gesunden Menschenverstand, also das Herz außer Acht zu lassen.

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