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Integration & Bildung

Islam in Europa: Integration und Identität

23. Nov 2007 | Integration & Bildung

Vortrag an der LMU von Dr. Mustafa Ceric

Das Auditorium Maximum der LMU war beim Vortrag von Dr. Mustafa Ceric am 23. November 2007 voll

Vortrag von Dr. Mustafa Cerić, LMU 23.11.2007

Großmufti von Bosnien und Herzegowina

Drei wichtige Fragen:

Welche zentralen Probleme beeinträchtigen die interreligiöse Verständigung zu Beginn des 21. Jahrhunderts?

“[..] Was ich vom Freidenker erwarte ist, dass er der Religion mit derselben geistigen Einstellung begegnet, wie der Gläubige [..] Wer beim Studium von Religion nicht eine Art von religiösem Gefühl einbringt, kann nicht darüber sprechen! Er gleicht einem Blinden, der über Farbe zu sprechen versucht.“ „Es kann keine rationale Interpretation von Religion geben, die selbst areligiös wäre; eine areligiöse Interpretation von Religion wäre eine Interpretation, die das Phänomen leugnet, das sie erklären möchte.“ (1)

Diese Äußerungen von Emile Durkheim (1858-1917) sind heute so relevant, wie zu der Zeit, als sie getroffen wurden. Sie sind heute sogar noch relevanter im Hinblick auf die Fragestellung nach den „zentralen Problemen, die die interreligiöse Verständigung zu Beginn des 21. Jahrhunderts beeinträchtigen.“

Erstens, kann ich aus meiner Erfahrung aus Bosnien bezeugen, dass der Ausdruck religiöser Intoleranz nicht das Ergebnis tiefer und aufrichtiger Religiosität ist, sondern vielmehr eines Mangels hiervon. Wer religiösen Glauben frei und fortschreitend entwickelt, wird ihn fortschreitend und friedlich zum Ausdruck bringen. Wem aber das Recht vorenthalten wird, religiösen Glauben frei und fortschreitend nach Art seiner Familie oder gemeinschaftlichen Tradition zu erlernen, tendiert später, wenn er seine religiösen Wurzeln entdeckt, zu Ungeduld in seinem Verlangen, das Versäumte aufzuholen. Diese Beobachtung kann für nahezu alle postkommunistischen Gesellschaften gelten, die auf einer völligen oder teilweisen Verneinung von Religion basierten.

Der kommunistischen Einstellung gegenüber Gott und Religion als „Opium“ nach Karl Marx, entspricht in der Anwendung die staatlich erzwungene Aussetzung von Religionsfreiheit. Wir müssen jedoch beobachten, dass die Gott-lose Bewegung, speziell in Europa in den vergangenen Jahrhunderten, auch für das mangelnde religiöse Bewusstsein verantwortlich ist, worin, so meine ich, die heutigen Probleme mit interreligiösem Missverstehen begründet sind. Wir haben heute Generationen, die mit der Annahme groß geworden sind, dass Gott nicht existiere; dann entdecken sie aber plötzlich, dass Gott doch existiert und dass „Religionen ‚das Wirkliche‘ ausdrücken und auf ihm gründen“, wie Emile Durkheim behauptet. (2)

Wie wir sehen, kann die Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach Gott und den Religionen nicht weiter bestehen. Die Menschen werden mit „dem Wirklichen“ der Religionen konfrontiert, doch verfügen sie weder über die religiöse Erfahrung noch über die religiösen Kenntnisse, um mit „dem Wirklichen der Religionen“ zurecht zu kommen. Diese Unwissenheit bringt Ängste mit sich. Und Angst ist der mächtigste Feind der Vernunft, der häufig zu Intoleranz und Gewalt führt. Man sagt zu Recht: „Die Männer fürchteten Hexen und verbrannten Frauen.“

Zweitens, bin ich mir bewusst, dass die Feststellung, Unwissenheit sei die Hauptursache für interreligiöses Missverstehen, nicht neu ist, aber es wäre wahrscheinlich neu, wenn ich sage, dass einige Erkenntnisse und bestimmte intellektuelle Vorstellungen auch der Grund für zwischenmenschliches Missverstehen sein könnten. Es wurde schon bemerkt, dass das cartesianische Konzept vom Menschen (nach Descartes, 1596-1650) Viele zu der Anschauung geführt hat, dass „wir von der Erde gesondert seien, und berechtigt, in ihr nicht mehr zu sehen als eine unbeseelte Ansammlung von Ressourcen, die wir nach Belieben ausbeuten können … Die alte Erzählung vom Bund Gottes mit der Welt und der Menschheit, und von der Zuweisung der Rolle guter Sachwalter und treuer Diener der Welt an die Menschen, war – ehe sie im Dienst der cartesianischen Weltanschauung fehlinterpretiert und verdreht wurde – eine starke, würdige und richtige Erklärung für unsere Bezogenheit auf Gottes Erde. Was wir heute brauchen ist ein aufgefrischtes Erzählen unserer Geschichte, ohne Entstellungen.“ (3)

Physik beschreibt die physikalische, Chemie die chemische, Biologie die lebensbezogene, Psychologie die innermenschliche und Soziologie die zwischenmenschliche Dimension unseres Lebens, während Religion eine umfassende Erklärung der Ganzheit des Lebens zu bieten versucht. Religion ist auf Absolutheit angelegt, im Sinne unbegrenzter Wahrheitsansprüche. So werden wir Menschen uns zunehmend bewusst, dass unsere Aussagen über „den Endzweck des Lebens“ beschränkt sind. Wer jedoch seine Aussagen mit „unbegrenztem Wahrheitsanspruch“ versehen möchte, nimmt gern eine religiöse Position ein. Dadurch wird Religion zu einem Teil des Problems gemacht, anstatt zu einem Teil der Lösung durch umfassende Kenntnis. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen Information und Wissen. Man mag gut informiert sein, aber damit nicht notwendigerweise kenntnisreich. Somit stellen Unwissenheit und mangelnde Kenntnis zwei Probleme dar, die die interreligiöse Verständigung zu Beginn des 21. Jahrhunderts beeinträchtigen.

Können Vernunft und Erfahrung, abgeleitet aus der Aufklärung und dem säkularen Leben, eine gemeinsame Grundlage für Menschen mit unterschiedlichem Glauben bieten, oder stellen sie zwingend ein Hindernis dar, das sie auseinander führt?

Ich halte die Aufklärung und ein säkulares Leben nicht für zwei Seiten derselben Medaille. Weder ist die moderne Aufklärung als Ergebnis des säkularen Lebens entstanden, noch brachte die Aufklärung das moderne säkulare Leben hervor. Im Gegenteil, diese beiden modernen Erscheinungen sind aus einem tiefen Glauben (4) an und einem aufrichtigen Suchen nach menschlicher Moral entstanden. Weder die Aufklärung, noch das säkulare Leben, schließen doch die Erfahrung von Glauben und religiösem Leben aus.

Es ist tatsächlich falsch anzunehmen, dass man um „aufgeklärt“ zu sein, frei von religiösem Empfinden sein müsse, was nicht nur zu einem Mangel an interreligiösem Verstehen, sondern auch zur Krise der interkulturellen Kommunikation beigetragen hat. Und es ist ein falsches Verständnis des säkularen als eines gottlosen Lebens, das die Spannung zwischen Staat und Kirche geschaffen hat.

Ich glaube, dass wir uns heute an der interessantesten Schnittstelle des Austausches zwischen religiösem und säkularem, ebenso wie rationalem und spirituellem Leben befinden, weil wir uns bewusst werden, dass Religion ohne Vernunft ihrer Aufgabe nicht gerecht wird, aber auch wissen, dass Vernunft ohne Glaube nicht zum Ziel führen kann. Auf dieselbe Art und Weise, in der sich säkulares Denken an der rationalen Unfähigkeit religiöser Menschen stört, sind religiöse Denker vom moralischen Verfall Säkularer irritiert. Historisch betrachtet, war rationales Denken in der Lage, das religiöse Leben in den vergangenen Jahrhunderten umzugestalten. Es bleibt abzuwarten, ob religiöses Denken fähig wird, dem säkularen Leben die verlorene Spiritualität zurückzugeben.

Wir brauchen eine neue Aufklärung, wirklich – wir müssen „die Aufklärung“ aufhellen („to enlighten ‚the Enlightenment’“) und sie mit dem Geist von Moral und Anstand versehen. Wir brauchen ein neues „Westfalen“, wo sich Vernunft und Glaube in gegenseitigem Vertrauen und Demut begegnen. Der Glaube sollte der Vernunft ein starkes Vertrauen in der Suche nach dem Sinn des menschlichen Lebens mitgeben, und die Vernunft sollte dem Glauben die rechte Ausgewogenheit verleihen in seinem Streben, die Verbindung zwischen der spirituellen und der physischen Welt zu finden.

Unsere Zeit ist nicht eine Zeit der Trennung wesentlicher Bestandteile des sozialen Lebens. Unsere Zeit ist eine Zeit der Einheit in Verschiedenheit. Daher ist der Glaube zu wichtig, um ihn den Theologen allein zu überlassen, und die Politik ist zu wichtig, um sie den Politikern allein zu überlassen. Es gibt keine monokausale Lösung für unsere heutigen Probleme, und es kann keine monoreligiöse Vorherrschaft für unsere heutigen Bedürfnisse geben. Die drei abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – müssen die Tatsache akzeptieren, dass sie dieselbe Vorstellung vom Anfang und Ende der Welt teilen; dass sie den selben Ort der Verbindung zwischen Himmel und Erde teilen: Jerusalem; dass sie die Gebote desselben Gottes vom Sinai teilen: Du sollst den Einen Gott verehren, Du sollst gut zu Deinen Eltern sein, Du sollst nicht töten, Du sollst nicht stehlen…

Können Möglichkeiten zu religionsübergreifender Kooperation entwickelt werden, oder sind die Hoffnungen, dass Toleranz und Versöhnung die Religionsgrenzen überwinden könnten, schlicht unrealistisch?

Ich komme aus einem Land mit einer langen Tradition religionsübergreifender Kooperation. Aber, ich komme auch aus der Stadt Sarajevo, die bekannt ist für Krieg am Anfang und am Ende des vergangenen Jahrhunderts. Ich möchte Ihnen sagen, dass das 21. Jahrhundert ohne Krieg in Sarajevo begonnen hat. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass dieses ganze Jahrhundert auch ohne Kriege auf dem Balkan, in Europa und in der Welt zu Ende gehen wird. Schließlich hat Sarajevo verdient, Symbol des Friedens, Stadt der Toleranz und Inspiration für Versöhnung zu sein.

Die Tatsache, dass die Nachkriegszeit oder die Zeit nach dem Friedensabkommen in meinem Land keine Gewalt und keine Rache für den Völkermord gesehen hat, zeigt, dass die Aggression gegen mein Land und mein Volk nicht religiös motiviert war. Im Gegenteil, der Krieg gegen Bosnien und Herzegowina war gegen alle Religionen und alle moralischen Werte gerichtet. Es ist das Böse im Menschen, das die Religion nicht kontrollieren kann, das manche Menschen zu Gewalttätern im Namen der Religion macht. Aber diejenigen, die unschuldige Menschen im Namen Gottes töten, sind nicht Männer Gottes. Sie sind Männer des Bösen.

Es ist also die Stimme der reinen Vernunft aufgrund derer diejenigen, die Wahrheit und Gerechtigkeit statt Rache wollen, und die für Versöhnung arbeiten anstatt den Konflikt fortzusetzen, belohnt gehören und nicht bestraft. Ich sage das, weil es für uns Bosnier wirklich erniedrigend ist, wie wir uns an den europäischen Botschaften in Sarajevo um Visa anstellen müssen. Die guten Bosnier sagen jetzt, dass die humanitäre Hilfe, die während der vier Jahre der Belagerung von Sarajevo aus Europa kam, durch Visagebühren zurückgenommen wird. Aber es geht nicht um Geld. Es geht um Würde und Respekt.

Ich glaube, dass die Bosnier der ganzen Welt gezeigt haben, dass sie Respekt verdienen für ihre religionsübergreifende Kooperation und Toleranz. Denn Sarajevo ist nicht nur ein Symbol der ewigen Stadt der Toleranz, sondern auch ein Zeichen der europäischen Einheit in der Verschiedenheit der Religionen und Kulturen.

So sollten wir, wenn das letzte Jahrhundert mit Krieg in Sarajevo begonnen hat und endete, hier und jetzt erklären, dass Krieg niemals mehr, nirgends und niemandem zustoßen darf. Bosnien ist nicht nur das Herz des Balkan, sondern die Seele Europas. Und die Seele Europas wird ihren Frieden nicht finden, bis Bosnien seinen Platz in der europäischen Familie der Nationen eingenommen hat. Dies müsste Europa jetzt besser als je zuvor verstehen. Denn Europa sollte sich nie mehr täuschen lassen von solchen, die das menschliche Leben nicht achten.

Ein Gebet aus Bosnien
Manchmal bricht Gott unseren Geist, um unsere Seele zu retten!
Manchmal bricht Gott unser Herz, um uns zu heilen!
Manchmal lässt Gott den Schmerz zu, dass wir stärker werden!
Manchmal lässt Gott uns scheitern, damit wir Demut lernen!
Manchmal lässt Gott Krankheit zu, damit wir besser auf uns achten!
Manchmal nimmt uns Gott alles, damit wir alles schätzen, was er uns gegeben hat!

Übs.: Dr. Stefan J. Wimmer
www.freunde-abrahams.de

(1) Emile Durkheim, „Contribution to discussion ‚Religious Sentiment at the Present Time“, aus: W.S.F. Pickering, Durkheim on Religion: A Selection of Readings with Bibliographies, Routlege, London 1975, S. 184

(2) Karen E. Fields, „Religion as an Eminently Social Thing“, Einführung der Übersetzerin zu Emile Durkheim, The Elementary Forms of Religious Life, The Free Press, London 1995, S. xvii
(3) Al Gore, Earth in Balance – Ecology and the Human Spirit, New York 2006, S. 218

(4) Mit „Glaube“ („faith“) meine ich die Gabe Gottes einer persönlichen Hinwendung („personal belief“); mit „Moral“ meine ich das dem Menschen eigene Unterscheiden zwischen Gut und Böse; und mit „Religion“ meine ich eine Theologie als „Lehre von Gott und seinem Verhältnis zur Welt, insbesondere durch die Analyse des Ursprungs und der Lehren einer organisierten religiösen Gemeinschaft“. Somit beinhaltet Moral eine Art von Religiosität, aber Religiosität ist nicht unbedingt an Moral gebunden.

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