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Integration & Bildung

Treue zur demokratischen Verfassung ist ein islamisches Gebot

Gott befahl es, den gewählten Herrschern (ulu-l-amr) zu gehorchen, damit keine Anarchie in der Gesellschaft aufkommen kann. »O ihr, die ihr Glauben erlangt habt! Gebt acht auf Gott und gebt acht auf den Gesandten und auf jene von euch, die mit Autorität betraut worden sind. (ulu-l-amr) (Koran: 4/59). Moderne Koranexegeten wie Rashid Rida, Muhammad Abduhu, İhsan Eliaçık und viele andere sind sich darin einig, dass mit ulu-l-amr die gewählte (politische) Führung gemeint ist und dieser Vers den Gläubigen den Respekt vor deren Autorität und die Befolgung der Verfassung gebietet. So lautet der Sinn des Verses: »Gehorcht denen, die ihr als kompetent für eure Vertretung angesehen und durch eure Wahl eigenhändig mit Verwaltungsmacht betraut habt.«

Also wird zum einen befohlen, den Geboten Gottes und der Propheten Folge zu leisten, aber auch der politischen Führung, die unser Land gemäß dem Grundgesetz regiert. Dies sind keine konkurrierenden Systeme, sie sollten sich vielmehr wechselseitig ergänzen und bereichern. Folglich stellt der Koran mit seinen ethischen Unterweisungen für das Leben eines Muslims eine geistig-moralische Orientierung dar, das Grundgesetz mit seinen Rechten und Pflichten eine weltliche.

So erklärten muslimische Gelehrte am 9. Juli 2006 Folgendes: »Muslime, die laut Vertrag die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes besitzen, sind nach der Sure 5/1 »O ihr, die ihr glaubt, erfüllt die Verträge« den Gesetzen des Landes verpflichtet. Wer kein Staatsbürger ist, aber eine vertraglich bestätigte Aufenthaltsgenehmigung besitzt, ist nach Sure 17/34 »Und haltet die Verpflichtung ein; denn über die Verpflichtung muss Rechenschaft abgelegt werden« ebenfalls an die Gesetze des Landes gebunden. Wer Gesetze und Vereinbarungen übertritt, wird dazu auch vom Propheten verurteilt: »Wer vertrauensunwürdig handelt, kann keinen Glauben und wer sein Wort bricht, kann keine Religion besitzen.«

Die Verfassung Deutschlands stellt mit ihrer Synthese aus theologisch-ethischer Lehre und menschlichem Erfahrungswissen die höchste Autorität dar und bietet ihren Bürgern somit eine gemeinsame Grundlage. Treue zu unserer Verfassung, die auf den Prinzipien des Rechts und der sozialen Gerechtigkeit aufgebaut ist, liegt in unser aller Interesse und ist ein Gebot des Korans. Das demokratische System nimmt sich das positive Recht zur Grundlage und unterscheidet sich dadurch sowohl vom theokratischen System, das auf religiösen Prinzipien beruht, als auch vom totalitären System, das die Religion und den Glauben ausschließt. Da die Demokratie das System ist, das nicht nur den Prinzipien und Lehren des Islam am nächsten kommt, sondern auch dasjenige, das der mensch­lichen Logik am meisten entspricht, sollten wir um seinen Fortbestand bemüht sein, es innerlich akzeptieren, vorbehaltlos verteidigen und mit Leben füllen. Ein Blick auf die Länder, in denen Despotie und Totalitarismus herrschen, genügt, um festzustellen, welche Verwüstung ein Mangel an demokratischer Kultur verursacht hat, und wie wichtig die vom Westen entwickelte demokratische Ordnung mit ihrem Freiheitsverständnis ist. Die Muslime sollten die »Überlegenheit der Verfassung und des Rechts« in weltlichen Dingen zur Sprache bringen und ihre innige Verbundenheit mit der Demokratie und mit diesem Land in aller Deutlichkeit zu erkennen geben. Sie sollten größte Sorgfalt darin üben, Distanz zu solchen Diskursen und Aktionen zu bewahren, die der Ordnung des demokratischen Rechtsstaates widersprechen. Es müssen sehr ernsthafte Schritte unternommen werden, damit alle erkennen, dass es nicht nur Lippenbekenntnisse ohne Auswirkungen auf Denken und Handeln sind, die die Muslime bezüglich der Treue zur Verfassung und zum Land abgeben. Wir müssen noch viel unternehmen, um das gewünschte Niveau an Verfassungstreue und Identifikation mit diesem Land zu erreichen.

Wir können nie genug unsere Verfassungstreue in Wort und Tat erkennbar machen, um Vorurteile zu widerlegen. Was zählt, sind nicht die Voreingenommenheiten anderer, sondern unsere eigene Bindung zur Demokratie. Obwohl ich einer der Imame bin, die die Treue zur Demokratie in Schrift und Wort am meisten verteidigen, bekam ich von staatlichen Stellen statt einer Würdigung etliche Hindernisse in den Weg gelegt, was aber meinen Glauben an die Demokratie noch verstärkt hat. Denn die Demokratie und der Rechtsstaat ist nicht das Werk einzelner Personen, sondern das gemeinsame Werk von uns allen, unser gemeinsames Schiff in eine bessere Zukunft. Es gibt Menschen in Europa, die sich an den Muslimen in diesem Schiff stören. Sie können diese unliebsamen Fahrgäste derzeit aber weder über Bord werfen noch sind sie willens, mit ihnen weiterzufahren. Es ist eine Aufgabe, die den Muslimen zufällt, diese Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie uns alle in Gefahr bringen, wenn das Schiff zu sinken droht. Der beste Weg, den Vorwurf, wir seien »Feinde der Demokratie«, auszuräumen, besteht darin, uns immer wieder zur Demokratie zu bekennen. Wir müssen die Wörter »Demokratie« und »Verfassung« so lange wiederholen, so lange aktive Rollen zum Schutz und zur Lebendigkeit dieser Werte übernehmen, bis das Ziel erreicht ist. In unserer Zeit wird die Demokratie von den Muslimen nicht infrage gestellt, geschweige denn bedroht. Ganz im Gegenteil: Die Demokratie selbst geht in Bezug auf ihre Haltung den Muslimen gegenüber durch eine Prüfung. Daher müssen nun die Muslime zusammen mit anderen Demokraten die Mitverantwortung übernehmen, damit die Demokratie diese Prüfung besteht. Sonst laufen die demokratischen Werte in Europa Gefahr, im Laufe der Zeit zu verderben und zu verschwinden. Wir müssen es nicht nur uns selbst, sondern auch anderen beweisen, dass diese Werte nicht nur den Christen, Juden, Atheisten oder Angehörigen anderer Religionen gehören, sondern auch den Muslimen und dass wir genau dasselbe Recht auf ihre Nutzung haben. So kann die Demokratie der europäischen Zukunft im Schulterschluss mit den demokratischen Muslimen eine neue Beschleunigung erleben.

Europa schaffte es nach bitteren Erfahrungen, Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihren Werten zu etablieren und in der Verfassung zu verankern. Damals hatte man die Muslime noch nicht im Blick. Heute stören sich einige an den Vorteilen, die sich auch für die Muslime daraus ergeben. Eine Vielzahl der in Europa be­heimateten Muslime stammen aus despotisch regierten Ländern, denen Menschenrechte und Freiheit der Person fremd sind. Das mag auch der Grund dafür sein, warum Muslime in Europa der Demokratie mehr beimessen als manch ein Europäer. Meine Freitagspredigt anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Geburtstag unseres Grundgesetzes fand nicht nur unter Tausenden von Muslimen in Deutschland großen Zuspruch, auch weit darüber hinaus wurde ich hierzu beglückwünscht. Und ich werde mich auch in Zukunft dem Gemeinwohl unserer Gesellschaft widmen, auch wenn Gegenteiliges berichtet wird. Wie auch immer wir uns verhalten, wird es Stimmen geben, die uns beschuldigen: Wenn wir, wie es der Großteil der Bevölkerung erwartet, die Muslime dazu aufrufen, sich in die Gesellschaft zu integrieren und sich mit dem Grundgesetz zu identifizieren, werden uns dennoch »verschleiernde islamistische Expansionsbestrebungen« unterstellt. Tun wir es nicht, ergeht der Vorwurf der Abschottung und Errichtung einer Parallelgesellschaft. Der Integration und dem friedlichen Zusammenleben wird auf diese Weise immenser Schaden zugefügt. Leider gibt es in der Mehrheitsgesellschaft Kräfte, die eine erfolgreiche Integration von Muslimen zu verhindern versuchen. Staat und Gesellschaft müssen dem gemeinsam entschlossen entgegenwirken.

Die Geschichte kennt genügend Beispiele von Gewalt und Unrecht im Namen Gottes, um in der aufgeklärten Welt den Glauben von Rechtsprechung und Justiz fernzuhalten. Genau für diesen Fall haben wir ein Grundgesetz. Darin sind die Grundwerte dokumentiert, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Darüber kann es keine Debatte geben.

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