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Ist eine Reform des traditionellen Islam möglich?

von | 16. Apr 2014 | Publikationen

Unter den Muslimen im Osten wie im Westen wird der Ruf nach Wandel und Weiterentwicklung immer lauter. Die Machthaber sowohl im politischen wie auch im religiösen Bereich beharren dagegen auf der Fortführung der bestehenden Strukturen und Verhältnisse. Die rasante Entwicklung der modernen Welt macht es aber unumgänglich, dass auch Muslime tiefgreifende Veränderungen mit vollziehen. Damit diese Prozesse konstruktiv und erfolgreich verlaufen können, muss auf Grundlage eines erneuerten Denkens ein funktionierender Mechanismus in Gang kommen. Wieder sind wir beim Prinzip des Idschtihad. Für eine alle Lebensbereiche, vom religiösen Verständnis bis zur gesellschaftlichen Umsetzung umfassende Wandlung halten die zentralen Quellen des Islam, der Koran und die Sunna, die Begriffe Islâh („Verbesserung, Reform“), Taghyîr („Veränderung“) und Tadschdîd („Erneuerung“) bereit.

Von Anfang an ist der Islam also auf Wandel, Innovation, oder wie man im Westen sagt, „Reform“ hin angelegt. In der Geschichte der islamischen Welt kommen diese Prozesse immer wieder vor. Freilich aber hatten diejenigen, die Veränderungen wollten, auch gegen Widerstände anzukämpfen, und allzu oft waren und sind nicht sie es, die die Oberhand behielten. Der Geistliche Said Nursi (1876-1960) brachte es auf den Punkt: „Die alten Verhältnisse sind nicht mehr gültig; entweder kommen neue Verhältnisse oder ein erbärmliches Verschwinden.“ Dies gilt mehr als jemals zuvor für das 21. Jahrhundert.

Obwohl unter den islamischen Gelehrten heute die traditionalistischen, konservativen Strömungen dominieren, setzen die progressiveren Kräfte unbeirrt ihre Arbeit fort und gewinnen allmählich an Zulauf. So hat in der Türkei die so genannte „Ankara-Schule“ (Ankara Okulu) schon weite Strecken bewältigt und hohes, auch internationales Ansehen erworben. Die Werke von reformorientierten Theologen und Wissenschaftlern in der Türkei haben in letzter Zeit ein breites Echo gefunden. Mit Spannung wird derzeit, ebenfalls aus der Türkei, eine neue Arbeit über Leben und Werk Muhammeds aus heutiger Sicht erwartet. Sie wird von einer Gruppe von Wissenschaftlern in Anbindung an die Diyanet-Behörde (Amt für religiöse Angelegenheiten der Türkei) veröffentlicht. Vergleichbare Projekte sind in Ägypten, Malaysia, im Iran und selbst in Saudi-Arabien in Gang. In Europa sind hier bereits die Arbeiten unter Führung des bosnischen Theologen Husein Djozo (1912-82) wegweisend. An der durch seine Initiative 1977 gegründeten Fakultät für Islamische Studien in Sarajevo werden die Reformgedanken vom Lehrkörper und von den Studierenden engagiert vertreten und weiter geführt. Im Unterschied zu anderen Ländern zeichnet sich Bosnien dadurch aus, dass die Vorgaben der Reformer über den akademischen Bereich hinaus von der breiten Masse der Bevölkerung bereitwillig aufgenommen werden. Weil die entsprechenden Arbeiten, gerade auch aus der Türkei, noch kaum in andere Sprachen übersetzt sind, haben sie noch nicht den Bekanntheitsgrad über Bosnien, die Türkei und die angrenzenden Länder hinaus erlangt, den sie verdienen und in Zukunft wohl auch erreichen werden.

In Westeuropa lässt sich seit einigen Jahren eine erhebliche Zunahme von Berichten und Publikationen über islamische Themen beobachten. Hier muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass speziell von den Medien als so genannte Islamexperten oder Islamkritiker präsentierte Publizisten mit mehr oder weniger fundierten Kenntnissen in Islamwissenschaft unter Umständen weniger auf eine Reform, als auf eine Deformation des Islam abzielen. Solche Richtungen sind kontraproduktiv, weil sie Schatten auf die seriöse wissenschaftliche Forschung werfen und Öl ins Feuer der Kritiker echter Reformbemühungen gießen.

Die Fundamente für die heute zunehmend spürbaren Prozesse wurden schon Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gelegt. Als mit dem Einfrieren wissenschaftlicher Betätigung das „Tor zum Idschtihad“ im Mittelalter geschlossen wurde und religiöser Traditionalismus und Aberglaube zunahmen, wurden keine ernsthaften Auswege aus den sozialen, ökonomischen und politischen Problemen der islamischen Länder mehr verfolgt. Stattdessen kam eine „gedankliche Auferstehung“ in Gang, die in den Schriften zahlreicher Intellektueller des letzten Jahrhunderts aufscheint. Dazu gehören etwa Djamaluddin al-Afghani (1838-97), Muhammad Abduh (1849-1905), Rashid Rida (1865-1935), Mahmud Shaltut (1893-1963), M. Akif Ersoy (1873-1936), Muhammad Iqbal (1877-1938), Fazlur Rahman (1919-88) und viele andere. Sie haben vor dem Hintergrund der jeweiligen Verhältnisse ihres Landes und ihrer Zeit neue Interpretationen geliefert und Forderungen nach Wandel und Entwicklung zur Sprache gebracht. Ihnen folgen nun mit noch fortschrittlicheren Arbeiten die Erneuerer des 21. Jahrhunderts. In dem dreibändigen Werk „Die Erneuerer des Islam“ (türk.: Islam Yenilikçileri, Istanbul 2002) von R. Ihsan Eliaçık werden die Persönlichkeiten, die seit den Anfängen bis heute für entsprechendes Denken und entsprechende Prozesse stehen, in eindrucksvoller Fülle dargestellt.

Seitdem auf verschiedenen Kontinenten der Wind von Wandel und Reform spürbar ist, wird in der islamischen Welt von einer neuen islamischen Aufklärung gesprochen. Gerade in Europa, auch in Deutschland, müssen Muslime auf allen Ebenen verstärkt und federführend neue Antworten suchen und bereitstellen.

Ganz vorne steht in dieser Hinsicht die Auseinandersetzung mit dem Thema „Frau im Islam“.

Aus traditionell praktisch ausschließlich männlicher Perspektive interpretiert, haben Kommentare zu Koran und Hadith (das Wort, die Anweisung und das Tun des Propheten) immer wieder zu frauenfeindlichen Diskursen und zur Missachtung von Gleichheitsprinzipien geführt. Nun muss, wie dies in der Diskussion im Westen und zunehmend nun auch im Osten geschieht, die Perspektive der Frau in den Vordergrund rücken. Die 58. Sure des Korans trägt den Titel al-Mudschadileh, „die debattierende Frau“ (oder: al-Mudschadalah, „die Debatte“). Der Titel der Sure nimmt Bezug auf eine Diskussion zur Zeit des Propheten Muhammad, die von einer Frau eingebracht und angeregt worden war, woraufhin das zugrunde liegende Problem gelöst werden konnte. Dank ihrer eigenen Initiativen wird sich die Stellung der Frau in der Gesellschaft Tag für Tag weiter verbessern, und je mehr sie sich verbessert, desto schneller wird auch die Integration voranschreiten.

Der Islam ist eine zeitgemäße Religion, zu der das im Lauf der Zeit entstandene, rückständige Image der Frau in eklatantem Widerspruch steht. Von der Feststellung des Propheten Muhammad ausgehend: „Frauen und Männer sind Teile des Ganzen“, können die Musliminnen und Muslime der neuen europäischen Generation, in den Gemeinden beginnend, der Frau in der Gesellschaft zu ihrer verdienten, führenden Rolle verhelfen. Durch Bildung und Erziehung müssen vorhandene Tabus überwunden werden. In den Moscheen müssen Themen wie Klassenfahrten, Schwimmunterricht, Liebe, Partnerwahl, Polygamie, Erbrecht, Scheidungsrecht, Bedeckung, gesellschaftliche Teilhabe, Leitungsanspruch, Diskriminierung und Gleichstellung zwischen Mann und Frau, Gewalt in der Familie, so genannte „Ehrenmorde“ und viele andere Frauen- und Familienfragen offensiv in Vorträgen, Seminaren und Konferenzen angegangen werden. So wie es zur Zeit des Propheten Muhammad der Fall war, müssen solche Themen nach dem Vorbild der Sure „die Debatte“ heute und morgen objektiv und öffentlich in den Gemeinden diskutiert werden.

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