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Integration & Bildung

Muslime in Europa – Vier Gruppen

Muslime in Europa wurden nicht nur von der Inquisition verfolgt. Zuletzt litten sie unter der Aggression der Kriege in Bosnien und im Kosovo, deren tragischen Höhepunkt die Massaker von Srebrenica markierten. Dennoch ist der Wunsch nach einem gemeinsamen Zuhause mit Christen, Juden und auch religionsfernen Menschen gerade bei Muslimen groß, vielleicht sogar besonders groß. Die trotz Jahrhunderte langer Kriege kontinuierlich in Osteuropa beheimateten Muslime, sowie die ab der Mitte des 20. Jahrhunderts auf der westeuropäischen Bühne sichtbar werdenden Muslime, können wir in vier Gruppen gliedern:

Autochthone Muslime
Europäische Muslime, deren Vorfahren vor Hunderten von Jahren hierher kamen, die also hier geboren und seit vielen Generationen hier beheimatet sind. Sie sind nach ihrer geographischen und ihrer religiösen Zugehörigkeit mit Europa zu identifizieren. Diese Gruppe umfasst rund 10 Millionen Menschen in Bulgarien, Rumänien, Griechenland (West-Thrakien), Albanien, Mazedonien, Kosovo, Serbien, Montenegro, Bosnien, Kroatien und Slowenien. In diesen Ländern existieren längst feste religiöse Strukturen. Langjährige Erfahrungen im Bereich theologischer Ausbildung auf schulischer und universitärer Ebene haben besonders Bosnien, Kosovo, Kroatien und Mazedonien aufzuweisen.

Bosniakische und albanische Muslime, die aus diesen Ländern aufgrund von Verfolgung oder aus wirtschaftlichen Motiven nach Westeuropa migriert sind, bilden in der Schweiz und in Schweden die größte, in Deutschland und Österreich die zweitgrößte Gruppe der Muslime. Für sie liegt sowohl ihre alte, wie ihre neue Heimat in Europa. Wenn ein in Deutschland lebender und arbeitender Muslim aus Bosnien, dem Kosovo oder aus Griechenland im Urlaub in sein Herkunftsland fährt, dann begibt er sich lediglich vom westlichen Teil Europas in den östlichen. Mit beiden Beinen steht er in Europa, mit seinem Denken und seiner Seele – er kann europäischer Kultur gar nicht fremd sein. Nicht anders als Franzosen, Briten oder Deutsche sind Bosniaken, Albaner, Kosovaren oder West-Thraker Hausherren in Europa.

Migrierte Muslime
Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich aus unterschiedlichen Motiven – Suche nach Arbeit, Flucht vor Verfolgung, Streben nach Bildung – Muslime aus der Türkei, dem Nahen Osten, Asien oder Afrika in westeuropäischen Ländern wie Österreich, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Belgien, der Schweiz, Italien, Spanien und den skandinavischen Ländern niedergelassen. Der wohl größte Teil dieser Migranten lebt mit einem Bein an ihrem neuen Wohnort, mit dem anderen aber weiterhin in ihrem Geburtsland.

Physisch befinden sie sich in den Ländern, in denen sie jetzt leben und arbeiten, mit ihren Gedanken und Empfindungen aber sind viele von ihnen dort geblieben, wo sie geboren wurden und aufgewachsen sind. Ihr Leben spielt sich in eigenen Welten, in so genannten Parallelgesellschaften, ab, in überwiegend einer Kultur und einer Sprache, welche beide dem Umfeld, in dem sie leben, fremd sind. Häufig stammen solche Muslime, die die große Mehrheit der ersten und oft auch noch zweiten Generation der Muslime in Westeuropa umfassen, aus ländlichen Regionen der Herkunftsländer oder aus dem Arbeitermilieu, mit entsprechend niedrigem Bildungsstand.

Durch sowohl eigene, wie auch staatliche und gesellschaftliche Versäumnisse bedingt, haben diese Kreise bis heute die größten Schwierigkeiten, wirklich heimisch zu werden. Nachdem sie zu einem erheblichen Teil zum wirtschaftlichen Erfolg und steigenden Wohlstand Europas beigetragen haben und nun eigentlich ein geruhsames Rentnerdasein genießen sollten, fehlt es weitgehend an geeigneter Betreuung. Während ihre Sterberaten täglich ansteigen, haben weder die muslimischen Organisationen noch der Staat bisher Antworten auf die Erwartungen und Bedürfnisse dieser Menschen gefunden.

In Europa geborene Muslime
Die neue und junge, dritte Generation der Muslime in Westeuropa wächst überwiegend mit zwei Kulturen und Sprachen auf. Viele von ihnen haben die Staatsbürgerschaft des Landes erworben, in dem sie selbst geboren sind. Wiewohl sie alle ähnliche Voraussetzungen mitbringen, empfinden es einige von ihnen als Dilemma, sich weder mit der sie umgebenden Kultur noch mit der der Eltern und Großeltern vollständig identifizieren zu können. Manche fühlen sich der östlichen Kultur näher. Viele aber verstehen sich selbst nicht mehr als fremd, sondern sind mit (west-)europäischen Sprachen und westlicher Lebensart vertraut und glücklich mit ihrer europäischen Identität.

Erhebliche Unterschiede sind oft zwischen dieser dritten Generation muslimischer Jugendlicher und der ersten und zum Teil zweiten Generation, die andere Sozialisierungsprozesse erlebt haben, in Bezug auf die Lebensweise und auf religiöse Einstellungen auszumachen. Viele Jugendliche zeigen gute und sehr gute Leistungen in Schule und Beruf und sind erfolgreich in die Gesellschaft integriert. Wenn andere, die durch falsche Erziehung im Elternhaus, schulische Überforderung, negative Beeinflussung durch ihr Lebensumfeld, und verstärkt durch das Gefühl von Ausgrenzung und Diskriminierung durch die Gesellschaft zum Problem werden, verdecken sie in der öffentlichen Wahrnehmung leicht die Leistungen und Erfolge der Mehrheit. Das Potential der Jugendlichen, die sich zum Nutzen aller in die Gesellschaft einbringen wollen und können, die zwei Kulturen und Sprachen verbinden, ist im Bewusstsein der Öffentlichkeit noch kaum präsent. Als geborene und gewachsene Brückenbauer können sie in Zukunft zwischen West und Ost in Wirtschaft, Kultur und Politik produktiv wirken.

Neue autochthone Muslime
In der Vergangenheit sind muslimische Gemeinschaften in Osteuropa als Folge zunächst militärischer Eroberungen, dann oft auch kultureller und gesellschaftlicher Anziehungskraft entstanden und gewachsen. Ganz anders ist heute eine in die Hunderttausende gehende Zahl von Europäern motiviert, die ohne oder eher entgegen gesellschaftlicher Vorgaben den Islam als ihre neue Religion gewählt haben, sei es durch Kontakte mit anderen Muslimen, bedingt durch Heirat, oder schlicht als Ergebnis eigener Suche. Viele von ihnen fühlen sich nun einerseits ihrer weitgehend säkular oder religiös anders geprägten Gesellschaft in gewisser Weise entfremdet, andererseits sprechen die bestehenden muslimischen Organisationen, die als Migrantenverbände auf fremden nationalen, ideologischen oder politischen Fundamenten aufbauen, sie nicht an. In dem hier entstehenden Vakuum wird die Gefahr religiöser Desorientierung im Sinne eines Abdriftens in fragwürdige und extremistische Strömungen in Einzelfällen relevant. Andererseits haben Kreise der neuen, einheimischen Muslime angesichts ausbleibender Initiativen sowohl der Verbände wie der Behörden, selbst mit dem Aufbau neuer Strukturen begonnen. Indem ihre Religion nicht mit jahrhundertealten Traditionen anderer Länder vermischt, bzw. belastet ist, sie uneingeschränkt hier zuhause sind, und zudem häufig über einen hohen Bildungsstand verfügen, werden sie – englische, deutsche oder französische Muslime – in Zukunft zweifellos bei der Gestaltung des Islams in Europa maßgebliche Rollen übernehmen.

Europa hat in der jüngsten Vergangenheit den Genozid an Muslimen im ehemaligen Jugoslawien zugelassen, hat jahrzehntelang kein ernsthaftes Interesse an der Integration muslimischer Arbeiter mit Migrationshintergrund aufgebracht, zeigt noch immer den Erwartungen und Bedürfnissen der neuen muslimischen Generation und der eigenen muslimisch stämmigen Bürger kein ausreichendes Entgegenkommen, ergreift keine überzeugenden Maßnahmen zur Verhinderung islamfeindlicher Aktivitäten. Europa macht heute eine Prüfungsphase vor seiner Geschichte durch. Wenn Europa getreu seinen tief verwurzelten Traditionen und Werten seine muslimischen Bürger nicht länger als „die Anderen“ betrachtet und behandelt, dann wird es, wie früher, auch in Zukunft auf der Grundlage jüdisch-christlich-muslimischer Einigkeit sicher und selbstbewusst sein. Davon wird der Verlauf des 21. Jahrhunderts maßgeblich abhängen.

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